Abendgottesdienst in St. Rupert

Predigt von Regionalbischöfin Dr. Dorothea Greiner im Abendgottesdienst in der St. Rupert Kapelle, Obernsees am 27.07.2013 zu Psalm 23

Liebe Gemeinde!

Unsere Bibel ist voll von so vielen wunderbaren hilfreichen Worten. Zum Beispiel. Gott spricht: „Fürchte Dich nicht, ich habe Dich erlöst, ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen Du bist mein“;  oder: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst die Hand über mir“; oder „Freuet Euch in dem Herrn alle Wege und abermals sage ich Euch freut euch. Der Herr ist nahe“. Oder eben auch: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“.
Unsere Bibel enthält Leitworte für das Leben. Mir tut es von Herzen leid, dass manche Menschen die Bibel irgendwo im Schrank haben und nicht darin lesen. Ihnen geht so viel Kraft und Halt und Trost und ermutigende Ermahnung verloren, weil sie nicht darin lesen. Keiner hier soll ein schlechtes Gewissen haben, der nicht in der Bibel liest, aber ich möchte jedem Lust machen dazu, weil die Bibel das beste Buch ist. Sie ist der Bestseller unter allen Büchern.
Es gibt inzwischen auch hervorragende Bibellesehilfen, die uns in einem Jahr durch die ganze Bibel führen. Es gibt Bibeln mit Bildern berühmter Maler. Eine Bibel ist ein wunderschönes Geschenk für andere und für sich selbst. Sie gehört als Schatzkästchen auf das Nachtkästchen oder sonst an einen Platz, an dem wir sie sofort zur Hand haben zum Gebrauch im Alltag.
Es ist das Markenzeichen lutherischer Christen, dass wir unsere Bibel kennen und lieben. Das soll auch so bleiben. Doch ich habe etwas Zweifel daran. Auch deswegen habe ich das Projekt 12 Worte initiiert. Bei diesem Projekt werden 12 Künstler, in 12 Gemeinden unseres Kirchenkreises zu je einem, also insgesamt zu 12 Bibelworten arbeiten. Schon allein durch die Auswahl der 12 Bibelworte, zu denen gearbeitet werden soll, kam die Bibel als Thema auf jeder Tageszeitung unseres Kirchenkreises auf einer vollen Seite in den Blick der Öffentlichkeit. Die Bibel muss neu unters Volk. Ungefähr 1500 Menschen haben ihre Auswahl eingesandt. 12 bekommen nun eine Bibel als Gewinn, natürlich eine Lutherbibel.
Es ist gewiss kein antikatholischer Zug, wenn ich fast immer die Übersetzung von Martin Luther empfehle oder verschenke. Sie alle wissen hoffentlich, dass mir Antikatholisches von Herzen zuwider ist. Doch die Lutherübersetzung hat unsere Kirche geprägt und soll sie weiterprägen. Sie ist nicht die einfachste Übersetzung aber die ausdrucksstärkste und klangvollste. Sie ist als Übersetzung echte Weltliteratur.
Nur in ihr finden wir die Worte: „Und das habt zum Zeichen, ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ Nur in ihr finden wir genau diese Übersetzung des Psalm 23, die wir gerade gesprochen haben: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“
Manche von Ihnen haben vorhin kein Blatt gebraucht, um den Psalm 23 zu beten. Sie haben ihn auswendig gesprochen. Das ist nur möglich, weil wir Lutheraner immer die Übersetzung von Martin Luther auswendig lernen, nicht die Übersetzung der Guten Nachricht, nicht die Einheitsübersetzung unserer katholischen Glaubensgeschwister, nicht die Züricher Übersetzung unserer reformierten Freunde.
Dass alle christlichen Konfessionen die Bibel als Grundlage des Glaubens verehren und nutzen, verbindet uns zutiefst; und die jeweilig mehrheitlich benutzte Übersetzung ist Teil der besonderen Identität jeder Kirche. Die Lutherübersetzung ist ein gemeinschaftsstiftendes Moment unserer Kirche. Ich plädiere nicht aus Abgrenzungsgründen für den Gebrauch der Lutherbibel in unseren Kirchen und unseren Privathäusern – nicht aus Abgrenzungsgründen, sondern wegen der besagte Schönheit der Übersetzung, wegen ihrer identitätsstiftenden Wirkung für unseren Kirche und noch aus einem dritten Grund:
Immer dieselbe Übersetzung zu lesen trägt ja dazu bei, dass wir Texte auswendig kennen. Und das Auswendiglernen von Bibelworten ist in der Bedeutung nicht zu unterschätzen.

Es liegt nicht nur am wunderbaren Inhalt von Psalm 23, dass 71% als ihr liebstes Bibelwort angekreuzt haben, sondern auch daran, dass ihn so viele kennen. Wir können nur lieben, was wir kennen.
Gott sei Dank können viele den Psalm 23 auswendig oder einen Teil von ihm. Ich bin ein Fan des Auswendiglernens geworden, denn, was wir auswendig können, haben wir inwendig. Wir haben es zur Verfügung, wenn wir es brauchen.
Letzten Sonntag hat ein blinder Organist in Rehau den Gottesdienst musikalisch wunderschön ausgestaltet. Er braucht kein Buch mehr, er hat die Klänge und Lieder in sich. Und weil er sie in sich hat und geübt ist, kann er improvisieren und spielen, sodass es eine wahre Freude ist.
Was wir an Liedern und Bibelworten in uns haben, nimmt uns keiner. Wenn wir nicht mehr hören, reden oder sehen können im Alter, haben wir ein Schatzkästchen in uns, das uns glücklich macht. Ich ermutige Sie alle, auswendig zu lernen.
Auswendiglernen ist kein Kraftakt, sondern eine Sache steter Einübung. Was schnell reinpauken ist auch schnell wieder draußen. Wenn Sie den Psalm 23 noch nicht auswendig können, aber ihn gerne lernen möchten, denken Sie nicht, dass Sie zum Auswendiglernen zu alt sind. Sie schaffen das. Nehmen Sie das Liedblatt mit, lesen Sie den Psalm jeden Morgen oder jeden Abend. Bald brauchen Sie keinen Zettel mehr. Sie werden ihn in sich tragen und er wird Sie tragen.

Es ist eine ganz rührende Geschichte, aber sie ist wirklich geschehen und zeigt so viel von der Kraft dieses Psalms:
Eine Bergbauernfamilie vermisste den kleinen Sohn. Sie suchten ihn und fanden ihn tot, abgestürzt. Aber was diejenigen, die ihn fanden, erzählten, hat alle in ihrem großen Schmerz getröstet. Das Kind hatte mit der rechten Hand den kleinen Finger der linken Hand fest umschlossen. Da wussten die Eltern, wie ihr Kind gestorben war: Im festen Vertrauen, dass der Vater im Himmel bei ihm ist. Sie hatten dem kleinen Kind beigebracht zu beten:
Der (Daumen umfassen)
Herr (Zeigefinger)
ist (Mittelfinger)
mein (Ringfinger)
Hirte (kleiner Finger).

Allein diese fünf Worte beinhalten unendlich viel Kraft zum Leben und zum Sterben. Denn beim Beten dieses Psalms wächst Gottvertrauen. Ja, Gott ist mein Hirte. Er führt auch durch den Tod; er führt durch die Trauer, er führt durch dunkle Täler. Und immer ist sein eigentliches Ziel für mich das Licht und das Leben und zuletzt eben das Leben bei ihm.

Doch ist ein Mensch der sagt: „Mir wird nichts mangeln“ nicht blind, verblendet und verblödet?
Merkwürdigerweise sprechen Menschen dieses Bekenntnis gerade dann, wenn Sie großen Mangel haben. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ ist ein Satz für Ehefrauen, die von ihrem Mann verlassen worden sind, ein Satz für Männer, deren Frau gestorben ist, ein Satz für junge Menschen, die nicht wissen, wo sie beruflich noch landen werden, ein Satz für Ehepaare, die keine Kinder bekommen können.
Ach eigentlich ist es ein Satz für jeden Menschen. Denn in jedem kann das Gefühl hochsteigen, leer zu sein, allein zu sein, überfordert zu sein, oder zu kurz gekommen zu sein im Leben.
Das Sprechen des Psalms geht mit uns einen Weg. Er füllt die Leere in uns nicht durch irgendetwas – sondern durch Gottes Gegenwart, in dem alle Fülle ist. Einsamkeit wird durch Fernsehsendungen nur überdeckt, durch den Psalm wird sie gewandelt in Freude, dass Gott da ist. Tabletten helfen nur sporadisch bei Überforderung oder Schlafmangel. Das Beten des Psalms erholt unsere Seele, weidet sie, tränkt sie mit frischem Wasser.
Der Weg zum glücklichen Leben liegt nicht im „Mehr-haben“, sondern in der Dankbarkeit für das, was wir haben. Sie liegt eigentlich sowieso nicht im „Haben“, sondern darin, dass wir zu Hause sind in unserer Gottesbeziehung, in unseren Freundschaftsbeziehungen und in uns selbst.
„Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“ – darauf zielt dieser Psalm. Wer in der Gottesbeziehung zu Hause ist, wer mit unserem dreieinigen Gott lebt, der gewinnt mehr und mehr Vertrauen zu seinem Schöpfer, der ihn auch erhält, der ist erlöst durch Christus von aller Schuld, und geht in der Kraft des Heiligen Geistes einen Weg der Befreiung aus der Angst zu kurz zu kommen, aus allen Ängsten.
Richtig frei von allen Ängsten werden wir erst sein, wenn wir im Himmel sind, doch den Weg der Erlösung und Befreiung, den will und kann Gott mit jedem Menschen gehen.
Wenn wir diesen Psalm lesen  geht Gott mit uns Schritte der Erlösung und Befreiung, Schritte zu neuem Vertrauen und zu größerer Gelassenheit. Nicht immer wird sich beim Lesen unsere Gefühlslage sofort ändern, und doch wird er wirken, weil Gottes Wort wirkt.

Der Psalm ist ein Bekenntnis gegen den Augenschein. An den Worten: „mir wird nichts mangeln“ habe ich das bereits deutlich gemacht. Auch bei allen anderen Sätzen ist das so: Gerade wenn wir nicht wissen, wie es weitergehen soll, hilft der Satz: „Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen“. Gerade wenn wir unter einem Unglück leiden oder kommen sehen hilft der Satz: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal fürchte ich kein Unglück.“
Atheisten und Skeptiker mögen sagen: Das ist Autosuggestion, Selbsthypnose im weiteren Sinn. Doch das ist die Außensicht, die Sicht, die sich nie auf die Glaubenserfahrung eingelassen hat. Wer den Psalm spricht, der merkt, dass dieses Sprechen nicht nur eine Meditationstechnik ist, sondern, dass Gottes Gegenwart Raum greift, dass er uns tatsächlich umgibt. Keine Autosuggestion - Gott wirkt durch sein Wort.
Wäre es Autosuggestion, so würde dieses Wort uns niemals mahnend gegenüber treten. Das tut es aber. Menschen, die gerade wissentlich im Ehebruch leben, denen ist nicht wohl, wenn sie beten: Denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich. Stecken und Stab trösten dann nicht, sondern zeigen die Grenzen auf. Sie wollen gar nicht, dass Gott da dabei ist, wenn sie das falsche Haus betreten. Du führest mich auf rechter Straße ist auch ein Satz, der sie in Frage stellt.
Soft ist dieser Psalm nicht, eben weil er Heilige Schrift ist und zum Wort Gottes werden kann, das uns im Kern trifft. Wer diesem Psalm betet, der wird manche Wege nicht mehr gehen. Es ist ein Psalm, in dem wir uns der Führung Gottes überlassen.
Am Ende noch der Hinweis auf eine Besonderheit im Psalm 23.
Die wenigsten merken, dass die Sprache sich zwei Mal wandelt im Psalm:
Er beginnt als Bekenntnis: „Der Herr ist mein Hirte“. Wenn wir die ersten Verse sprechen, bekennen wir uns zu Gott und sagen, wie er ist und wie er an uns handelt.
Doch dann auf einmal wird aus dem Bekenntnis ein Gebet, aus dem Reden über Gott wird ein Reden zu Gott: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich, Du bereitest vor mir einen Tisch …“
Dass dieser Übergang zum Beten im Psalm gerade dann kommt, wenn es ums dunkle Tal geht, ist kein Zufall. Im dunklen Tal – angefangen von der Röhre bei der Kernspintomographie  bis zur echten Todesgefahr oder Angst um einen Menschen – fangen viele zu beten an; und das ist gut so. Keiner muss dann denken, dass Gott nicht hören wird, weil er schon so lange nicht mehr gebetet hat.
Der Hirte hört den Klagelaut des Schafs und kommt und ist da und hilft und hilft und tröstet und stärkt. Er wird nicht immer vom Tod erlösen, aber er geht mit uns den Weg der Erlösung unser Leben lang und selbst im Tod.
Am Ende des Psalms, im letzten Vers – sozusagen nach dem betenden Durchleben des dunklen Tals mit Gott - wird aus dem Beten ein Versprechen: „ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“. Gott ist dem Beter nahe gewesen im dunklen Tal und nun wird er in dem Guten, das kommen wird, die Nähe Gottes selbst suchen und im Haus des Herrn bleiben.
Der Psalm geht mit uns unmerklich den Weg des Glaubens.
Warum lieben wir diesen Psalm? Weil wir alle tief im Innern wissen, dass dieser Weg gut ist. Wir wollen diesen Weg wachsenden Gottvertrauens gehen, Gottvertrauen, das uns stärkt, das uns erlöst aus Angst und uns befreit zum Leben. Wir wachsen hinein in die Gewissheit: Gott führt uns und führt uns hindurch. Und wir wollen uns seiner Führung anvertrauen und bei ihm sein und bleiben. Wir sind bei ihm zu Hause. Wir sind in seinem Haus zu Hause. Die Zukunft ist hell: Was auch immer kommen mag: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“.
Amen.