700 Jahre Geroldsgrün am 2. Juli 2023

Liebe Gemeinde!
Das Evangelium des heutigen Sonntags haben wir vorhin gehört. Es spricht uns alle direkt an.
Seid barmherzig, wie auch euer himmlischer Vater barmherzig ist.

Geht es Ihnen auch so, dass Sie mit zunehmendem Alter immer barmherziger werden? Bei mir ist es so und es war auch nötig. Ich rede persönlich, denn Glaube ist immer etwas Persönliches.
Als Jugendliche bin ich im württembergischen Pietismus aufgewachsen. Wer nicht weiß, was Pietismus ist – nun Geroldsgrün ist davon geprägt, etwa durch die Bobengrüner Pfingsttagung und Pfarrer Hägel, durch landeskirchliche Gemeinschaften und viele gute Bibelkreise.
Als waschechte jugendliche Pietistin, die abendlich in die Gemeinschaftsstunde ging und engagiert war im CVJM wusste ich ziemlich genau, wie Christsein geht – und wie es nicht geht.
Der württembergische Pietismus ist vielleicht noch eine Spur herber und kirchenkritischer als der oberfränkische. Ich stimmte ein in das Gerede über die Kirchengemeinde in Reichenbach an der Fils, in der ich wohnte, und sagte so leichthin: „die ist doch tot“. Und die katholische Kirche kam noch schlechter weg.

Nun, inzwischen weiß ich, es hängt auch von unserem Blick ab, was wir sehen. Ob unser Blick barmherzig ist? In meinen bisherigen 14 Jahren Dienst als Regionalbischöfin gab keine Kirchengemeinde, die ich besuchte, in der ich nicht wirklich Gutes fand. Nur war es vielleicht etwas anders als ich früher erwartet hätte. Und manches in der katholischen Kirche – wie z.B. die Einübung von Kindern und Jugendlichen in den Gottesdienst durch den gut begleiteten Ministrantendienst – finde ich echt klasse!

Bin ich nun unkritisch geworden? Nein, gewiss nicht. Ich habe gemerkt: Im Leben braucht es zwei Bekehrungen, eine zweifache Wende: Eine zu Jesus, zu Gott hin - und eine mit ihm zu den Menschen mit seiner Barmherzigkeit im Herzen.
Im Kern bin ich dabei übrigens bis heute Pietistin geblieben und stehe auch dazu. Der wesentliche und gute Kern des Pietismus findet sich interessanterweise in allen Kirchen und christlichen Bewegungen. Zu diesem Kern christlichen Glaubens gehören drei Kernelemente:
1.    Wir lernen durch die Bibel Grundlegendes für unser Leben – eben solche Sätze wie heute, die uns prägen können und sollen:
Seid barmherzig, vergebt, richtet nicht.
2.    Jesus Christus verdient unsere innigste Liebe, inniger als zum Ehepartner. – Das würde übrigens auch mein Mann sagen. Die Liebe zu Jesus ist ja gerade die Wurzel aus der auch unsere Liebe zueinander immer tiefer wird – und das nach 40 Jahren Ehe. Und:
3.     Christsein braucht Gemeinschaft, braucht Gottesdienste und Gespräche über den Glauben und was die Bibel und Jesus für uns bedeuten. Denn was sich ein Mensch allein – ohne Gemeinschaft - an Glauben zusammenzimmert, ist ein windschiefes Kartenhaus.

Es gibt viele unterschiedliche christliche Prägungen. Manche sind pietistisch, manche eher charismatisch, manche leben ihr Christsein eher sozial-diakonisch – um nur drei Richtungen zu nennen. Es hat bei mir ein Weilchen gebraucht, bis ich die verschiedenen Richtungen als Bereicherung erfahren habe – und aufgehört habe über sie zu reden, sondern mit ihnen und sie zu schätzen.
Und manche leben ihr Christsein in der katholischen Kirche, in der anglikanischen oder in einer Freikirche. Und das in vielen Ländern und Kulturen. Auch die ökumenische weltweite Vielfalt der christlichen Kirchen ist ein Reichtum. Alle ziehen ihre Maßstäbe aus der Bibel, lieben Jesus Christus und pflegen Gemeinschaft mit ihm und miteinander. Und wir gewinnen aus der Begegnung mit anderen Christen ein weites Herz.

Ich bin überzeugt: Wenn wir einst nach unserem Leben vor dem Richter stehen, wird er nicht nach unserem Frömmigkeitsprofil fragen, sondern ob wir dem Ruf Jesu gefolgt sind und so gelebt haben:
Barmherzig, ohne über andere zu richten, sondern von Herzen, annehmend, vergebend und freigiebig.

700 Jahre Geroldsgrün ist ein echter Grund zu feiern. Ich gratuliere Ihnen zu diesem hohen Jubiläum. Im Jahr 1323 gab es schon einen Ort mit Namen Gerhartsgrün.
Wie schön, dass Sie 700 Jahre Geroldsgrün mit einem Gottesdienst feiern. Das ist nicht selbstverständlich. Ich danke Ihrem 1. Bürgermeister Stefan Münch für die Einladung. Denn unsere Generation, in der so viel Entkirchlichung geschieht, spielt eine entscheidende Rolle, ob die Kultur unseres Miteinander auch in Zukunft christlich geprägt bleiben wird in unseren Ortschaften oder nicht.

Ich habe Sorge wegen der vielen Kirchenaustritte – nicht um der kirchlichen Institution willen. Die wird sich wandeln. Das Netz der Pfarrstellen und hauptamtlichen Mitarbeitenden wird durch die Austritte dünner werden, gewiss – aber das ist nicht das größte Drama. Meine Sorge gilt der Gesamtentwicklung in unserer Gesellschaft:
Schauen wir mal zurück:
die antichristliche Haltung des Nationalsozialismus ab 1933 und dann nach 1945 - also unmittelbar danach - das antichristliche SED-Regime haben die große Mehrheit im Osten Deutschlands dem Glauben entwurzelt.
Das merken wir inzwischen in ganz Deutschland. Zudem hat eine Säkularisierungswelle seit langem ganz Europa erfasst. Ich habe Sorge um unsere Gesellschaft wegen dieser Entchristlichung, wegen des Verlustes grundlegender Orientierung, die uns die biblische Botschaft gibt. Jesus ist vielen fremd – Gemeinschaft der Glaubenden ist ihnen unwichtig.
Dieser Erosionsprozess verändert unsere Gesellschaft.

Die Wahl von Herrn Sesselmann im nahen Sonneberg muss uns erschrecken - nicht wegen parteipolitischer Machtkämpfe, sondern wegen des Geistes, der in der AfD und ihrem Umfeld herrscht. Es ist ein Geist, der Gottes Geist widerspricht. Es ist die völlige Verdrehung der Botschaft Jesu, wenn Barmherzigkeit nur Deutschen gilt.
Die Barmherzigkeit Gottes gilt jedem Menschen. Sie erfüllt unser ganzes, ungeteiltes Herz, verändert alle unsere Beziehungen - oder es ist nicht die Barmherzigkeit des Gottes, der die Welt liebt.

Das ist ja das Verstörende am Nationalsozialismus im Dritten Reich gewesen, dass die Akteure liebevolle Familienväter und reizende Nachbarn waren und zugleich die Vernichtung von Juden, Sinti, Homosexuellen und auch entschiedenen Christen befördert oder zumindest mitgetragen haben.
Diese Akteure waren gespaltene Persönlichkeiten, hatten gespaltene Herzen. Die Barmherzigkeit Gottes will unser ganzes Herz erfassen, erfüllen, verwandeln.
Gott will nicht nur Deutschenfreundlichkeit, sondern Menschenfreundlichkeit. Das ist ein grundlegender Unterschied.
Es erschreckt also, wenn eine Person, dessen Partei in ihren Äußerungen so wenig Menschen-freundlichkeit erkennen lässt, in Sonneberg Landrat wird. Rechtspopulismus und Rechtsextremismus sind in der Mitte des Bürgertums angekommen. Da sollten wir uns nichts vormachen.
Ihr Geroldsgrüner, seid wachsam welcher Geist weht und widersprecht dem Ungeist. Barmherzigkeit, die allen Menschen gilt, ist ein wesentliches Kriterium für gute eigene menschliche Persönlichkeitsentwicklung und für gesellschaftliche Entwicklungen.
Ohne diese Barmherzigkeit gelten Menschen mit Demenz oder starker Behinderung als unnütz. Dabei lernen wir gerade an diesen Menschen die Barmherzigkeit, die Gott will - und die auch wir immer wieder brauchen.

Gott schaut Euch - jeden und jede von Euch - voll Barmherzigkeit an, Euch mit Eurem ganzen Leben. Zu wissen, sein barmherziger Blick ist über mir, sein liebevolles Angesicht leuchtet über mir, das verwandelt meine Beziehung zu mir selbst, macht mich barmherziger zu mir und anderen.

Eure Kirche hier am Ort, die Jakobuskirche ist wunderschön. Weil sie auch eine Markgrafenkirche ist, konnte sie teilhaben an einem großen Inventarisierungsprojekt für 95 Markgrafenkirchen. In Vorbereitung dieses Tages heute, habe ich mir das Inventarverzeichnis angeschaut, habe mich zum Beispiel gefreut über den Kelch und die Abendmahlskanne, die von den Konfirmanden und Goldenen Konfirmanden des Jahrgangs 1961 gespendet wurden, an dem trompetenden Engel auf dem schönen Orgelprospekt und vielem mehr.
Hängen geblieben bin ich an einem Satz, der so gut zu unserem Bibelwort heute passt. Er steht eingraviert über dem Eingangsportal. Ob Sie sich an diesen Satz erinnern? Meist sehen wir ja die Dinge, die ständig da sind, nicht mehr bewusst.
Mancher wird sich vielleicht trotzdem erinnern, andere will ich nicht länger auf die Folter spannen.
 Der Spruch über dem Eingangsportal lautet: „Gott ist Liebe“. Wenn Sie die Kirche betreten, dann betreten Sie einen Raum, der dazu da ist, dass Sie sich der Liebe Gottes öffnen und von ihr getröstet, gestärkt und erfüllt werden. Barmherzigkeit ist nur ein anderes Wort für Liebe. Barmherzigkeit ist ein Aspekt der Liebe. Barmherzigkeit ist eine Liebe, die vergeben kann.

700 Jahre Geroldsgrün. Wir sind die Generation, die gerade unsere Orte prägt, unsere Gesellschaft, die Zukunft. Ihr seid wichtig – auch wichtig für Gott und seine geliebte Welt.
Orientiert Euch an der Bibel mit ihren bewegenden Geschichten, z.B. der vom barmherzigen Samariter und der vom verlorenen Sohn, der heimkehrt und den der barmherzige Vater in die Arme nimmt.
Seid barmherzig, wie Euer himmlischer Vater barmherzig ist, ruft Jesus uns zu: Seid barmherzig zu Euch selbst und zu jedem anderen Menschen, auch zu Eurem Chef und Eurer Kollegin, zu Eurer Lehrerin und dem komischen Mitschüler, zu Eurer Mutter, zu Eurem Kind - gerade zu denen, die Eure Nerven anspannen.
Seid barmherzig gegenüber anderen christlichen Prägungen, gegenüber Fremden und Menschen mit Behinderung. Werdet barmherzig mit ungeteiltem Herzen – im Laufe Eures Lebens immer mehr.
Das wird geschehen durch Jesus in Eurem Herzen und durch Gottes Geist, der Euch erfüllt.
Geht in die Zukunft Eures Lebens im Vertrauen:
Gott ist ein Gott, der mich sieht. Der Vater im Himmel schaut auf Euch und Euer Leben mit Augen voll Barmherzigkeit – und er braucht Euch an Eurem Ort.
Amen.