Bamberg/Bayreuth. Was trägt Kirche in Zeiten von Umbruch, Vertrauenskrise und gesellschaftlicher Polarisierung? In einem Doppelinterview mit dem Magazin "Echt Oberfranken" sprechen Erzbischof Herwig Gössl und die evangelisch-lutherische Regionalbischöfin von Bayreuth, Berthild Sachs, offen über Hoffnungsorte, engagierte Ehrenamtliche und neue Wege von Kirche in Oberfranken. Sie erzählen von berührenden Begegnungen, klarer Haltung gegen Ausgrenzung und der Sehnsucht vieler Menschen nach Sinn, Wahrheit und Gemeinschaft – gerade mit Blick auf Advent und Weihnachten. Ein Gespräch über Mut zur Veränderung, ökumenische Nähe und eine Kirche, die dort lebt, wo Menschen sie gestalten.
Frau Sachs, Herr Gössl, wenn Sie auf die aktuelle Lage Ihrer Kirche blicken: Was macht Ihnen persönlich Hoffnung?
Sachs: Ich nehme in unseren oberfränkischen Gemeinden trotz schwieriger Rahmenbedingungen ein großartiges Engagement wahr – und eine wachsende Bereitschaft, Kirche jenseits traditioneller Formen zu gestalten.
Gössl: Das Heilige Jahr der Hoffnung geht zu Ende, aber die Hoffnung nicht. Wir haben viele Hoffnungsorte gefunden, die zeigen, wie lebendig Kirche ist. Gerade weil es heute nicht mehr selbstverständlich ist, Christ zu sein, bewegt es mich, wie viele – auch junge – Menschen sich für den Glauben begeistern. 2026 schließen wir mit dem Jahresmotto „Du bewegst die Welt“ an. Das macht Mut.
Gibt es ein Erlebnis oder eine Begegnung, die Ihnen gezeigt hat, wie lebendig Kirche heute noch ist?
Gössl: Vor Kurzem haben wir wieder Ehrenamtliche ausgezeichnet – von der Zeltlagergruppe bis zur Eine-Welt-Gruppe. Sie stehen für ein Engagement, ohne das Kirche heute nicht bestehen könnte.
Sachs: Ich erlebe bei meinen Besuchen viel Kraft und Lebendigkeit. In Dorfgemeinschaften, bei Kirchweihen, Ordinationen, Hochschulgemeinden. In der Bayreuther Gehörlosengemeinde feierte ich einen bewegenden Gottesdienst mit Gebärdenchor. Kirche lebt da, wo Menschen sie gestalten. Die sinkenden Mitgliederzahlen sind Realität.
Wie gehen Sie damit um – strukturell, aber auch geistlich?
Sachs: Wir verschlanken Strukturen, um nah bei den Menschen zu bleiben. Geistlich zählt nicht die Zahl, sondern jeder Einzelne, der Glauben lebt und weiterträgt.
Gössl: Auch bei uns übernehmen Ehrenamtliche mehr Verantwortung. In 35 Seelsorgebereichen arbeiten Teams aus Haupt- und Ehrenamtlichen, die bis 2027 eigene pastorale Strategien entwickeln. Dieser Prozess soll neue Impulse setzen – offen, experimentierfreudig und ökumenisch.
Die Kirchen stehen auch vor einer Vertrauenskrise. Wie begegnen Sie ihr?
Gössl: Vertrauen wächst nur durch glaubwürdiges Handeln – bei Priestern, Hauptamtlichen, allen, die Kirche repräsentieren. Transparenz ist zentral, besonders bei Finanzen. Entscheidend ist: Wir müssen leben, was wir verkünden.
Sachs: Vertrauen lässt sich nur täglich neu erarbeiten – durch Ehrlichkeit, Respekt und Zugewandtheit. Jede und jeder, die in der Kirche Verantwortung tragen, sind Gesichter der Glaubwürdigkeit. Wichtig ist, dass sie sich von der Kirchenleitung gesehen und unterstützt fühlen.
Was bedeutet „Glaubwürdigkeit“ für Sie persönlich – und wie kann sie heute neu gewonnen werden?
Sachs: Dass man mir meinen Glauben glaubt. Glaube macht weder mich noch die Kirche unfehlbar, aber er hilft, Fehler einzugestehen und daraus zu lernen. Gerade beim Umgang mit Missbrauchsfällen sind wir in einem schmerzhaften Lernprozess.
Gössl: Glaubwürdigkeit heißt für mich: Leben und Verkündigung müssen zusammenpassen. Wenn wir Gemeinschaft predigen, müssen wir sie auch leben – offen, menschlich, veränderungsbereit.
Wir leben in wilden Zeiten. Krieg, Hass, Polarisierung. Spüren Sie eine neue Sehnsucht nach Wahrheit, Haltung und Menschlichkeit?
Sachs: Wahrheit und Haltung sind längst keine absoluten Begriffe mehr. Selbst Menschlichkeit wird teils infrage gestellt. Christliche Werte geben Orientierung, aber es braucht auch Räume – digital und analog –, in denen um diese Werte ehrlich gerungen wird.
Gössl: Ja, diese Sehnsucht spüre ich. In Zeiten von Fake News und Spaltung ist das Evangelium eine starke Stimme für Wahrheit, Barmherzigkeit und Liebe. Wenn Minderheiten ausgegrenzt werden, darf Kirche nicht schweigen. Nationalismus und Rechtsextremismus sind mit dem Christentum unvereinbar.
Weihnachten steht vor der Tür. Eine Zeit, in der es selbst Zweifler und Glaubensverweigerer in die Kirchen zieht. Manch einer spricht in diesem Zusammenhang von dem Phänomen der „U-Boot-Christen“ – die an Weihnachten brav in die Kirche gehen, ansonsten aber 364 Tage lang untertauchen. Wie begegnen Sie diesem Phänomen – oder sollte man sagen: dieser Sehnsucht sehr vieler Menschen?
Gössl: Dieses U-Wort verwende ich nicht. Man ist entweder Christ oder kein Christ. Der sonntägliche Kirchgang ist wichtig, aber nicht das einzige Kriterium. Wer nur an Weihnachten kommt, zeigt: Etwas lebt in ihm. Jeder ist willkommen. Weihnachten feiert die Geburt Jesu – und das spürt man in den Gottesdiensten am stärksten.
Sachs: Pfarrerinnen und Pfarrer freuen sich über volle Kirchen am Heiligen Abend. Weihnachten ist Höhepunkt des Jahres – Krippenspiel, Musik, Gemeinschaft. Wir investieren viel Zeit, damit Besucher das Wunder und den Zauber spüren. Jeder ist willkommen!
Was möchten Sie den Menschen in der Region mitgeben, die vielleicht zweifeln, aber dennoch offen sind für einen neuen Zugang zum Glauben?
Gössl: Glaube und Zweifel gehören zusammen. Wer zweifelt, spürt schon, dass ihm etwas fehlt. Viele Menschen verspüren heute die Sehnsucht nach Gott und Jesus Christus. Glaube wächst in Gemeinschaft – selbst klein wie ein Senfkorn.
Sachs: Probiere es aus! Such dir Menschen oder Orte, die deiner Seele guttun. Hab Vertrauen – „Wer suchet, der findet.“ Für den Anfang empfehle ich die Bibel oder unsere Seite.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten für die Zukunft Ihrer Kirche in Oberfranken – wie sähe der aus?
Sachs: Dass wir in allen Veränderungen glaubensstark, fröhlich und offen bleiben – nicht ängstlich an Strukturen festhalten, die geistlich lähmen.
Gössl: Ich wünsche mir, dass Kirche – auch ökumenisch – überall im Dorf bleibt. Glauben soll sichtbar und lebendig sein.
Welche Rolle spielt die demografische Entwicklung in Oberfranken?
Gössl: In vielen ländlichen Regionen ziehen junge Menschen weg, Dörfer werden leerer. Zugleich wachsen Städte und Hochschulorte. Wir müssen überall präsent bleiben – nicht nur mit Gottesdiensten, auch mit Beratungsstellen und sozialer Arbeit.
Sachs: Abwanderung und Überalterung prägen den Nordosten unseres Kirchenkreises. In Städten sinkt der evangelische Anteil, doch Kirche und Diakonie bleiben wichtige Partner im sozialen und kulturellen Miteinander.
Viele Kirchen sind kulturhistorische Schätze – aber Sanierungsfälle. Wie gelingt der Spagat zwischen Erhalt und Finanzen?
Sachs: Die Bayreuther Epiphaniaskirche zeigt, was möglich ist: viel Engagement, Spendenbereitschaft und Gottvertrauen. Auch andernorts braucht es langen Atem und gesellschaftliches Miteinander, um Kirchen als geistliche und kulturelle Mitte zu erhalten.
Gössl: Wir haben ein neues Gebäudekonzept: Alle Gebäude werden nach Nutzung kategorisiert, Mittel gezielt eingesetzt. Das bedeutet auch, dass wir manche Gebäude aufgeben müssen – leider Gottes.
Gibt es gelungene Beispiele, kirchliche Gebäude neu zu nutzen?
Gössl: Ja, von kommunaler Nutzung bis zur Weitergabe an andere Konfessionen. In Schillingsfürst wurde etwa eine Kirche zur Mehrzweckhalle für eine Schule umgebaut – eine sinnvolle Lösung.
Sachs: Oft gelingt Vermietung an soziale Einrichtungen oder gemeinsame Nutzung. Die Coburger Lukaskirche wurde 2021 entwidmet und wird nun ein Ort für Kinder und Familien. In Bad Rodach entsteht aus einer Friedhofskirche ein zentrales Kirchenbüro.
Auch die Trauerkultur verändert sich. Was bedeutet das für kirchliche Friedhöfe?
Sachs: Kirchliche Friedhöfe kostendeckend zu betreiben, ist eine Herausforderung. Neue Formen wie Urnenanlagen oder Baumbestattungen werden angenommen. Friedhöfe können auch Lebensorte sein – etwa durch Friedhofcafés oder Seelsorgeangebote.
Gössl: Für uns bleibt entscheidend, dass die Würde des Verstorbenen gewahrt wird. Eine Grabstätte gehört zum christlichen Verständnis des Abschieds dazu.
Welche Schritte unternehmen Sie, um Kirche zukunftsfähig zu machen?
Gössl: Neben pastoralen und Gebäudekonzepten treiben wir die Digitalisierung voran – mit klaren Richtlinien, auch beim Umgang mit KI. Aber klar: Seelsorge bleibt menschlich. Meine Predigten schreibe ich selbst.
Sachs: Wir erproben neue Gottesdienstformen – etwa Tauffeste oder Aktionen wie „Einfach heiraten“. Und wir gewinnen Mitarbeitende auf neuen Wegen, durch Quereinstieg oder multiprofessionelle Teams.
Wie wichtig ist die ökumenische Zusammenarbeit?
Sachs: Sehr wichtig. Seit über zehn Jahren gestalten wir ökumenische Exerzitien im Alltag. Auch beim Religionsunterricht oder bei der Gebäudefrage arbeiten wir eng zusammen.
Gössl: Ich bin mit Ökumene groß geworden. Unterschiede gibt es, aber sie trennen uns kaum noch. Wir sind alle Christen mit denselben Sorgen und Hoffnungen. Ökumene ist heute selbstverständlich.
Welche Rolle soll Kirche künftig in der Gesellschaft spielen?
Gössl: Kirche darf moralische Instanz, sozialer Akteur und spirituelle Heimat zugleich sein – eine Einladung zu einem Leben in Vollständigkeit: mit Gott, mit den Menschen, mit sich selbst.
Sachs: Wo Kirche als sinnstiftend erlebt wird, wird sie automatisch sozialer Akteur und geistliche Heimat.
Wie gelingt es, mit Menschen in Kontakt zu kommen, die sich von Kirche entfernt haben?
Sachs: Durch neue Kontaktmöglichkeiten – Klinik- und Touristenseelsorge, digitale Segensangebote oder spirituelle Orte wie die Communität Selbitz.
Gössl: Indem wir zuerst zuhören. Keine vorgefertigten Antworten, sondern offene Fragen. Und indem wir zeigen, dass Glaube lebendig ist. So können wir Brücken bauen – nicht überreden, sondern begleiten.
von Echt Oberfranken
veröffentlicht auch auf Erzbistum-Bamberg.de/nachrichten
